Abflug Messestadt München

Der großartigste Stadtteil der Welt?

Gregor Kern, langjähriger Chefredakteur der Take Off!, wagt eine Geisterbeschwörung, einen Blick in die Vergangenheit und vielleicht einen in die Zukunft:
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Bis vor Kurzem konnte man sagen, der Geist der Messestadt ist der Geist des Werdens. Inzwischen ist das letzte Stück Brachland vor meiner Haustür zugebaut. Alles ist da, von der Kultur-Etage bis zum Discounter. Das Schulzentrum und die Stadtteilbibliothek kommen in Kürze. Die Messestadt ist fertig. Das Werden ist vorbei, sein Geist ist verflogen. Alles was noch kommt, wird mehr vom Selben sein. Noch vor dem Werden stand der Geist der Sozialdemokratie. Er hat die Planung des Stadtteils und das Zusammenleben gleichermaßen beseelt. Wenn ich „Sozialdemokratie“ schreibe, meine ich keine Partei. Vielmehr enthält dieses Wort für mich das Versprechen einer Welt mit mehr Mitsprache für alle, mehr Chancen für jeden Menschen und so viel Gleichheit, wie es Gleichheit geben kann in der wirklichen Welt eines Stadtteils. So kam es auch.

Der großartigste Stadtteil der Welt

Hier war alles neu und alle, die hierherkamen, waren es auch. Das machte die Bewohnerinnen und Bewohner ein Stück weit gleich. Ebenso, dass noch nichts da war – kein Laden, gar nichts. Man musste sich helfen und behelfen. Dazu hatten fast alle kleine Kinder – noch so ein Gleichmacher. Man lernte sich kennen, war schnell per du. Abenteuer lag in der Luft und Gemeinschaftsgeist. Die Planerinnen und Planer waren ehrgeizig: Kompakt, urban (also städtisch) und grün sollte der Stadtteil werden und sozial, eine Heimat für die unterschiedlichsten Menschen. Das gewaltige Bauvorhaben sollte als „Vorzeigestadtteil“ in die Welt hinaus strahlen.

Glanz und Kränkung

Weil noch nichts fertig war, konnten und durften die Bewohnerinnen und Bewohner ihren Stadtteil mitgestalten – manchmal mussten sie es auch. Wenn im Stadtteil etwas fehlte und erfunden werden musste, vom Fameri über das Bürgerforum und den Sportverein bis hin zu Schulzentrum und Helferkreis für Flüchtlinge, immer fanden sich Leute und haben getan, was zu tun war. Alle für alle, alle gemeinsam. Wenn ich an den jüngst bezogenen Bauten von Wogeno, Wagnis und der Kooperative Großstadt im Osten vorbeigehe, fühle ich diesen Gemeinschaftsgeist noch leise wehen.
Ein Nachbar erzählt mir von einem Gespräch mit einem Polizisten. Irgendwann meinte der Polizist, dass die Messestadt ein Stadtteil „mit einem gewissen Ruf“ sei. „Das hat mich ein wenig gekränkt“, sagte mein Nachbar.
Der Geist des Gekränktseins sucht die Messestädterinnen und Messestädter immer wieder heim. Immer kommt irgendjemand daher und meint, den Stadtteil ein „Ghetto“ nennen zu dürfen. Allein der Preis einer Wohnung hier sagt, auf welchem Unsinn solche Meinungen gebaut sind.
Ich jedenfalls lebe gern hier. Und die meisten anderen hier tun das genauso. Es ist die Vielfalt der Menschen, die die Messestadt ausmacht.

Fertig, doch unvollendet

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Und doch stehe ich da und etwas fehlt mir. Kann es sein, dass mir mehr versprochen worden ist? Sollte hier nicht der großartigste Stadtteil der Welt oder zumindest Münchens entstehen?
Wenn ich lese, wie sensationell schön der Neubau des Volkstheaters im Schlachthofviertel geworden ist, wie wundervoll der Interimskonzertsaal in Sendling, werde ich melancholisch. Ich denke, sie sollten in der Messestadt stehen. Kaum an einem anderen Ort in München hätte ein Volkstheater ein vielfältigeres „Volk“ als Nachbarn gefunden. Und kaum woanders hätten eine internationale Bevölkerung und ein Konzertsaal internationaler Prägung einander besser spiegeln können. Ein kulturelles Leuchtturmprojekt hätte die Messestadt vor jedem Ghetto-Verdacht geschützt.
Mehr noch, ein Theater oder ein Konzertsaal wären wie eine magische Tür gewesen. Tritt man durch sie hindurch, werden Dinge möglich, die zuvor nicht möglich waren. Ich meine damit weniger, was auf der Bühne aufgeführt wird.
Ich denke eher, dass hinter dieser Tür auch das Café oder das Wirtshaus hätten stehen können, die der Messestadt immer noch fehlen. Ja, ein wenig Glanz verbunden mit sozialer Phantasie hätten der Messestadt gutgetan. Ich will den Menschen im Schlachthofviertel und in Sendling nichts missgönnen, aber es war die Messestadt, die als Vorzeigestadtteil geplant oder gar erträumt war. Ein wenig Gekränktsein scheint mir da erlaubt und angebracht. Umgekehrt: Glanz hat nie zum Grundwerkzeug sozial-demokratischer Stadtplanung gehört. Ihre Phantasie erstreckt sich auf Grünanlagen, Spielplätze, ein Einkaufszentrum, gute Verkehrsanbindung. Sie will jedem Menschen ein festes Dach über dem Kopf und viel Luft und Licht in jeder Wohnung bieten, Badezimmer mit fließend warmem und kaltem Wasser. All das haben die Messestädterinnen und Messestädter bekommen. Mehr, als viele Menschen auf der Welt je haben werden. Glanz ist da ein Luxusproblem.
So ist die Messestadt heute ein solides Wohngebiet am Stadtrand. Grün, kompakt, gewiss nicht „urban“. Im Geist der Sozialdemokratie ist es irgendwie gelungen, dass Menschen aus unterschiedlichsten Herkunftsländern, mit unterschiedlichen Einkommen und unterschiedlicher Bildung hier ein Zuhause gefunden haben und ziemlich friedlich zusammenleben. „Irgendwie“ und „sozialdemokratisch“ gehören für mich zusammen. Gemeinsam stehen sie für verkürzte Lösungen, für ein „passt schon“, das wie ein gegenseitiges auf die Schultern klopfen ist, das nicht enden will: „Hurra, die Messestadt ist fertig“. Der Vorzeigestadtteil wurde dagegen nie vollendet. „Ein Stadtteil ist niemals fertig“, sagt ein Freund.

Die Schönheit sind wir

Ich glaube, den Geist eines Stadtteils bestimmen die Menschen, die in ihm leben, und wie sie in ihm leben. Vor drei Jahren hatte Michael Lapper auf einer Freifläche einen Kiosk aufgebaut und die Leute hier eingeladen, ihn zu benutzen. Das Ergebnis war großartig. Ich lernte Nachbarinnen und Nachbarn kennen, die und wie ich sie noch nicht kannte. Die Messestadt glänzt immer dort, wo Leute zusammenstehen und gemeinsam etwas machen. „Die Schönheit sind wir“, schrieb ich in der Take Off!.
Ich möchte mehr sehen, von dieser Schönheit. Wo sind die freien Flächen, die freien Orte, wo wir alle uns zeigen können, wo wir alle einander sehen können, zwanglos? Alle.

Ich danke allen, die mir mit Gesprächen und Anregungen geholfen haben, diesen Artikel zu schreiben

Gregor Kern

Der Autor war viele Jahre Chefredakteur der Take Off! Er engagiert sich regelmäßig im Bürgerforum, war auch einige Jahre dessen Vorstand.

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