(Collage: R. Miesbach)
01.10.2023
Unser Autor ist gebürtiger Russe und lebt seit 27 Jahren in Deutschland. Der Kontakt in seine alte Heimat gestaltet sich seit dem Kriegsausbruch schwierig.
Ich schätze, dass in Russland weit mehr als 50 Prozent der Menschen für den Krieg sind. Auch einige meiner früheren Unikollegen. Wenn ich sie reden höre, kommt es mir vor, als würde ich mich mit Putins Redenschreibern unterhalten. Sie sagen, dass die Faschisten in der Ukraine bekämpft werden müssen, dass die russische Bevölkerung dort geschützt werden muss. Früher haben wir oft telefoniert, aber seit dem Krieg habe ich kaum Kontakt mehr, weil es immer Streit gibt. Ein Freund schickte mir nach einem Telefonat eine SMS: „Aber wir bleiben trotzdem Freunde!“ Aber das ist schwer, solange wir nicht auf einer Ebene sind. Er behauptet zum Beispiel, die NATO habe Atomwaffen in Charkiw stationieren wollen.
Auch in der Messestadt gibt es Putin-Unterstützer. Einige kenne ich auch, aber wieso sollte ich mit ihnen reden, wenn wir keine gemeinsamen Werte haben? Dann gibt es viele, die einfach hinnehmen, was passiert. Denen ist es egal, solange es sie selbst oder ihre Angehörigen nicht trifft. Andere wiederum sind entsetzt. Sie sagen, früher waren die Ukrainer doch
unsere Brüder.
Auf beiden Seiten gibt es Propaganda, da mache ich mir keine Illusionen. Amerika hat im Westen viele Fäden in der Hand. Aber ich sage immer, hier wird man wenigstens nicht ins Gefängnis geworfen, wenn man eine abweichende Meinung hat.
Von meiner Familie leben meine drei Halbgeschwister und meine Mutter in Russland. Mit ihnen versuche ich, nicht über das Thema zu reden. Ich habe ihnen einmal meine Meinung gesagt: Dass ich finde, dass das ein sinn- loser Krieg ist und es Putin nur um Gebietserweiterung, Macht und Einfluss geht. Ich weiß nicht genau, was sie denken, aber ich erwarte auch keinen offenen Austausch. Vielleicht haben sie Angst, dass ihr Telefon abgehört wird.
In der Arbeit haben mich meine Kollegen anfangs vorsichtig gefragt, ob sie mit mir über den Krieg reden können. Manche fragen mich auch, wie die Deutschen mich als Russen behandeln. Aber dann sage ich: Ich bin doch auch Deutscher. Ich habe beide Staatsbürgerschaften. Solange der Krieg dauert, kann ich deshalb nicht nach Russland fahren. Auch meinen Namen will ich lieber nicht in der Take Off! lesen.
Ich habe Angst, dass sich der Krieg ausweiten kann. Putin könnte taktische Atombomben einsetzen, das halte ich schon für möglich. Vielleicht versucht er auch, einen Korridor nach Kaliningrad zu schlagen, dazu müsste er durch NATO-Gebiet. Manche wollen schon solche Planungen erkannt haben.
Wie das enden könnte? Ich habe keine Ahnung. Die Ukraine hat meiner Meinung nach auf Dauer keine Chance zu gewinnen. Ich bin auch eigentlich gegen Waffenlieferungen, aber es bleibt kein anderer Ausweg: Sonst würde die Ukraine überrannt. Und wenn man auf Putin eingeht, würde er es nochmal probieren. Dass er geschwächt sein soll, kann ich nicht erkennen. Andererseits ist die Geduld im Westen endlich. Mir macht Sorge, dass die AfD zu stark wird, sodass Deutschland seine Unterstützung für die Ukraine zurückzieht. Das würde Putin in die Hände spielen.
Leider muss ich sagen: Ich habe keine Ahnung, wie es Frieden geben kann. Mein privates Ziel ist, mit meinen Freunden in Russland wieder in Kontakt zu kommen, damit wir uns nicht vollständig entfremden. So kann ich vielleicht im Kleinen für ein bisschen mehr Frieden sorgen.
Der Autor ist Take Off! persönlich bekannt. Seine Aussagen wurden aufgezeichnet von Hans Häuser.
Unsere Autorin ist aus der Ukraine, lebt aber schon lange in der Messestadt. Nie hätte sie gedacht, dass es überhaupt möglich ist, dass zwei Völker, die immer „Brüder und Schwestern“ waren, in einem Krieg landen können.
Wie konnte es so weit kommen, habe ich mich gefragt. Was sind die Ursachen, und wie lange wird es dauern? Zu Beginn des Krieges hat man permanent das Gefühl gehabt, dass es am nächsten Tag vorbei sein wird. Wenn nicht morgen, dann spätestens nächste Woche, definitiv. Es kann einfach nicht sein, es muss ein riesiges Missverständnis sein, denke ich mir immer noch. So viele offene Fragen, keine Antworten. Fassungslosigkeit.
Dieselbe Fassungslosigkeit erlebe ich auch bei vielen Landsleuten und Verwandten. In einigen Whatsapp-Gruppen habe ich Kontakt zu Menschen aus Charkiw im Osten der Ukraine, das ist mein Geburtsort.
Menschen dort waren in Panik, viele Frauen mit Kindern wollten so schnell wie möglich aufbrechen und das Land verlassen. Ich habe versucht, sie zu beruhigen. So wie meine Freundin Tanja, die ich seit dem Kindergartenalter kenne. Tanja hat ein Kleinkind, damals ein Baby. Ich habe mit ihr und ihrer Mutter täglich video-telefoniert. Auch meine Freundin Luba hat noch im selben Haus gewohnt, in dem wir aufgewachsen sind. Ein typisches mehrstöckiges Haus mit vielen separaten Eingängen.
Ich telefonierte täglich mit Tanja und befinde mich auch heute noch viel in den Charkower Chats, um Menschen Mut zuzusprechen und vielleicht irgendwie zu helfen, Fahrgemeinschaften zu organisieren, damit Menschen den langen Weg nach Europa bewältigen können. Es fehlen Autos, es fehlt an Benzin.
Viele Menschen, Frauen mit ihren Kindern, versuchen, so schnell wie es geht, das Land zu verlassen, um vor allem ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Eines Tages, zwei Wochen nach dem Kriegsbeginn, beschloss auch Tanja zu fliehen. Der Auslöser war, dass sie in der Schlange gestanden war, um Milch für ihr Baby zu kaufen, und fast nichts mehr bekommen hätte. Strom und Lichtausfälle gab es auch. Dann habe ich ihr am Telefon gesagt, dass es heute an Milch fehlt und morgen vielleicht schon am fließenden Wasser und anderen lebensnotwendigen Sachen: „Du musst deinen kleinen Alex nehmen, die nötigsten Sachen für den Weg packen und so schnell wie möglich mit dem Zug wegfahren. Ich werde dich in München empfangen.“ Das hat sie auch gemacht. Nicht gleich. Aber nach einigen Tagen. Und das war das auch gut so. In einem völlig überfüllten Zug, wo sich die Menschen vordrängten, um überhaupt einsteigen zu können, war sie endlich drin.
Die Umstände der Fahrt waren katastrophal, wie sie mir erzählt hat. Man hat den ganzen Weg, vor allem bei Kiew, Angst gehabt, von einer Rakete getroffen zu werden. Man durfte keine Handys benutzen. Drei Tage war sie unterwegs, schließlich kamen sie lebend und gesund in München an. Seitdem leben sie hier. Das war im März 2022. Zurück will sie erstmals nicht, da Charkiw immer noch als unsicher gilt.
Mein Leben, obwohl ich schon lange in Deutschland lebe, ist täglich mehr oder weniger durch die Nachrichten oder durch meine Freundin vom Krieg geprägt. Indirekt natürlich und vor allem gedanklich, aber sehr intensiv. Es ist furchtbar. Ich werde meine Fassungslosigkeit und Sorge um die Ukrainer aus den ersten Kriegstagen nicht vergessen. Auch das verstörende Gefühl, wenn man nach stundenlanger Kommunikation mit Bewohnern von Charkiw das eigene Handy ausschaltet, die Handtasche mitnimmt und hinausgeht, um eigene alltägliche Sachen zu erledigen. Blauer Himmel, die Sonne, es scheint alles in Ordnung. Ich bin in Sicherheit. In der anderen Welt ein Alptraum aus Angst, Unsicherheit und Verzweiflung.
Die Autorin ist Take Off! persönlich bekannt.