Illustration: Elisabeth Meßmer

Schöne neue Messestadt?

29.09.2022

Klimaerwärmung, Bildung, Gemeinschaft – wie könnte unser Viertel 2050 aussehen? Wir wagen eine Zukunftsvision.

1. Energieversorgung

Dank der Geothermie-Anlage, die die Messestadt von Beginn an mit Fernwärme versorgt, war die Ausgangslage gut. Durch den zusätzlichen massiven Ausbau von Solaranlagen und den beiden Windrädern auf den Rodelhügeln ist die Messestadt nunmehr autark und klimakompatibel mit Energie versorgt.

2. Anpassung an Extremwetterlagen

Dass bereits beim Bau der Messestadt in den ökologischen Richtlinien festgelegt wurde, dass Versickerungsmöglichkeiten für das Niederschlagswasser vor Ort erstellt werden mussten in Form von Sickergräben und -schächten, hat sich als sehr vorausschauend erwiesen. Im Vergleich mit anderen Stadtteilen hatte die Messestadt auch hier eine bessere Ausgangsposition als gehäuft Starkregen auftrat. Vollgelaufene Keller und Wasserschäden in den Erdgeschossen kamen deshalb seltener vor.

Aus weiß wird grün
Um die Wassermassen noch besser aufnehmen zu können und das Ausmaß von Überschwemmungen geringer zu halten, wurden zusätzlich alle möglichen Flächen bepflanzt: Die Fassaden und Dächer, sofern sie nicht für Photovoltaik genutzt werden, wurden begrünt. Von der Architektur der Gebäude ist nicht mehr viel zu sehen. Die Dach- und Fassadenbegrünung brachte außer der Verbesserung des Messestadtklimas noch unerwartet weitere Vorteile: Sie führt zu einer nicht unerheblichen Dämmung der Innenräume gegen Kälte und Hitze, und sie schützt die Fassaden vor Sturmschäden.

Ziergärten, wo früher Straßen waren
Auch auf dem Großteil der früheren Autostraßen und -parkflächen sind Nutz-, Ziergärten oder einfach nur eine grüne Wildnis entstanden, sofern sie nicht als Mobilitätsstationen genutzt werden. Das viele Grün spendet auch Schatten und etwas Kühle, wenn im Sommer die Temperaturen über 40 Grad klettern.

Durch die vorausschauende Stadtplanung, die Nord-Süd-Ausrichtung der Gebäude und die Frischluftschneisen in Ost-West-Richtung, profitiert die Messestadt im Vergleich zu anderen Stadtteilen in den heißen Wochen des Jahres. Die Luft ist in Bewegung. Das verhindert extreme Hitzestaus.

Mittelmeer-Vegetation im Riemer Park
Der Riemer Park gleicht jetzt einem Wald mit ursprünglicher Mittelmeer-Vegetation. Die Bäume, die der sommerlichen Hitze und Trockenheit nicht standhielten, mussten durch Steineichen, Pinien und andere ersetzt werden. Während der Dürreperioden sinkt der Grundwasserspiegel stark ab. Dann kann kein Frischwasser mehr in den Riemer See nach gepumpt werden. Da der See sonst keinen weiteren Zufluss hat, sinkt dann der Wasserspiegel ab, bis das schlammige Ufer sichtbar wird. Das Algenwachstum nimmt überhand. Den modrigen Geruch des Sees nimmt man dann schon von Weitem wahr.

 

 

3. Neue Mobilität

An Mobilitätsstationen können unkompliziert und günstig verschiedenartige Fahrräder und Tretfahrzeuge für jeden Zweck ausgeliehen werden, wie z. B. Lastenräder, behindertengerechte Fahrzeuge oder Familienkutschen mit einstellbaren Sitzen für jede Beinlänge.

Überschwemmungen von leerstehenden Tiefgaragen
Der motorisierte Individualverkehr ist verboten. Viele Menschen wussten lange um die Notwendigkeit dieses Schrittes und hatten ihn erwartet, waren aber nicht fähig, ihn selbst zu tun.
Die nun leerstehenden Tiefgaragen sollten für die Mobilitätsstationen genutzt werden. Da es bei Starkregen jedoch immer wieder zu Überschwemmungen der Tiefgaragen kam, musste man auf oberirdische Standflächen ausweichen. Die Tiefgaragen bleiben bislang ungenutzt.
Die öffentlichen Verkehrsmittel sind gut ausgebaut und befördern recht zuverlässig die Menschenmassen. Die Buslinie durch die Messestadt fährt im 5-Minuten-Takt und ist gut ausgelastet.

E-Mobilität als Irrweg
Das Messestädter Konzept der kurzen Wege wurde weiter ausgebaut: Wohnung, Arbeit, Einkaufen, Freizeiteinrichtungen, alles befindet sich oft im Umkreis von wenigen Kilometern. Entfernungen, die gut zu Fuß oder mit einem Fahrrad machbar sind. Die E-Mobilität hatte sich als Irrweg der 20er Jahre erwiesen. Sie ist nur noch den Einsatzfahrzeugen und Baumaschinen vorbehalten.

Auch der Güterverkehr ist innerdeutsch und mittlerweile grenzüberschreitend auf Schienen unterwegs. Es gelang, sich international auf eine einheitliche Schienen-Spurbreite zu einigen. Dieses Schienennetz ist endlich fertiggestellt und ein großer Fortschritt. Allerdings hat sich der Preis für Produkte mit langen Transportwegen durch die hohen Energiekosten so sehr verteuert, dass sie zu Luxusartikel wurden.

4. Kreislaufwirtschaft und Altlasten

Es gibt keinen Müll mehr, sondern eine Kreislaufwirtschaft. Alles was nicht irgendwie repariert, wiederverwendet oder kompostiert werden kann, wird zu Sammelplätzen gebracht. Es wird in seine Rohbestandteile zerlegt und als Rohstoff wiederverwertet.
Aber die Altlasten der früheren Generationen bereiten weiterhin Schwierigkeiten. Vor allem das Lagerproblem des verstrahlten Mülls der Atomwirtschaft und der Rückbau der stillgelegten Atomkraftwerke sind nach wie vor nicht gelöst. Auch, weil die Erde durch Erdbeben, Tsunamis und Stürme instabiler geworden ist.

5. Schulbildung

Aufgrund der Regel, dass jede Frau nur noch ein Kind gebären soll, hat die Zahl der Schulkinder in der Messestadt stark abgenommen. In der Lehrer-Wirth-Schule beträgt die Klassenstärke max. noch 15 Kinder. Die ehemalige Astrid-Lindgren-Schule wurde zu einer Erstaufnahmestation für Geflüchtete umgebaut.

Bereits ab dem Alter von 3 Jahren üben schon die jüngsten Schüler*innen im Klassenverband vor allem soziale Fähigkeiten und demokratische Tugenden ein, wie Teamarbeit, Initiative, Mitbestimmung, Solidarität, Kompromissfähigkeit, Minderheitenschutz und das Übernehmen von Verantwortung. Sie lernen zu argumentieren und diskutieren, unfaire Gesprächsstrategien zu erkennen und diese abzuwehren.

Zertifikate statt Noten
Durch ihre sprachliche Gewandtheit hat die körperliche Gewalt bei Konflikten unter den Schülern sehr abgenommen. Aber sie lieben es, sich in sportlichen Wettkämpfen zu messen. Sport und Spiel stehen täglich auf dem Stundenplan, wo die Kinder aus einem breiten Angebot wählen können.
Das eigentliche Allgemein- und Spezialwissen eignen sich die Schüler*innen selbständig, alleine oder in Partnerarbeit, mit Hilfe von altersgerechten, optimierten Lernprogrammen an.

In der Klasse stellen sie die erarbeiteten Inhalte den Mitschüler*innen vor. Anhand von Tests können sie ihr Wissen überprüfen und sich Zertifikate ausstellen lassen. Noten gibt es längst nicht mehr.

Das Wissen um die ökologischen Zusammenhänge wird im Klassenverband erarbeitet, so wie auch die Fertigkeiten Kochen, Werken, Handarbeiten und Reparieren. Der Wert der Gemeinschaft wird bei den Schüler*innen hochgeschätzt.

6. Zusammenleben

Gemeinschaftsgeist und Hilfsbereitschaft haben zugenommen. Schließlich könnte jeder jederzeit Opfer von neuen Krankheiten oder einer Katastrophe werden, wie Überschwemmungen, Bränden, Verwüstungen durch Stürme, Blitzeinschläge, Erdbeben. Das schweißt die Menschen der Messestadt wie auch andernorts zusammen und fördert die Hilfsbereitschaft.

Auch hat die noch bewohnbare Landfläche auf der Erde abgenommen und reduziert sich weiter. Weltweit müssen viele Menschen ihre Heimat verlassen. Die Migranten kommen in Erstaufnahmestationen an. In der Messestadt erfüllt die ehemaligen Astrid-Lindgren-Schule diesen Zweck. Da unser Stadtteil von Beginn an multi-national und -kulturell war und sich ein tolerantes, respektvolles Zusammenleben etabliert hat, bereitet die Aufnahme weiterer Neuankömmlinge kaum Schwierigkeiten.

Uncoole Aufzüge und Rolltreppen
Zum Mindestlohn gibt es jetzt ein passendes Äquivalent: den Höchstlohn. Er sorgt dafür, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich wieder verkleinert und trägt so zum sozialen Frieden untereinander bei.

Die Menschen sind allgemein gesünder geworden, denn die neue Mobilität erfordert körperliche Bewegung, weswegen die Zivilisationskrankheiten wie Fettsucht, Diabetes und Herzinfarkt rückläufig sind. Auch in der Messestadt gilt es als uncool, Aufzüge oder Rolltreppen zu benutzen, da ohne Not Energie vergeudet wird.

Mehr gefährliche Bakterien
Aber da ist das Problem der resistenten Keime, die stark zugenommen haben. Vor allem durch den übermäßigen und unsachgemäßen Gebrauch von Desinfektionsmittel während der Pandemie Anfang der 20er Jahre wurden resistente Krankheitskeime regelrecht gezüchtet. Und das, obwohl bekannt war, dass sich diese Erreger nur über Aerosole und nicht über Oberflächenkontakt verbreiten. Ferner war zu der Zeit noch der massenhafte, vorbeugende Antibiotika-Einsatz in der Massentierhaltung üblich, wodurch die Wirksamkeit dieses lebensrettenden Medikaments nachließ. Das stellt die Ärzteschaft vor große Herausforderungen.

Keine Haustiere, knappe Lebensmittel
Mittlerweile gibt es keine Haustierhaltung mehr, denn Nahrungsmittel sind ein knappes Gut geworden, da die Extrem-Wetterlagen häufig zu Ernteausfällen führen. Aber viele Leute bauen in ihren Gärten und auf ihren Balkonen selber Lebensmittel an. Dort stellen einige Messestädter auch Wohnraum für Wildtiere, wie Insekten, Vögel und Kleinsäuger, z. B. Igel, Mäuse und Bilche, bereit und freuen sich, wenn diese angenommen werden. Durch das viele Grün im städtischen Bereich kamen viele Wildtiere in die Stadt, und durch die begrünten Hauswände kommen sich Mensch und Tier sehr nahe.

Viele Menschen mussten wieder lernen, ihren Lebensraum mit anderen Lebewesen zu teilen und ggf. Angst und Ekel überwinden, wenn wieder mehr Insekten und Spinnen in den Zimmern vorkommen, Waldmäuse über den Balkon huschen oder ein Marder beim Fenster hereinschaut.

Wie ist das Verhältnis zwischen den Generationen? Vereinzelt werden ältere Menschen mit Vorwürfen konfrontiert: Wie konntet ihr so verantwortungslos und verschwenderisch leben? So, als wärt ihr die letzte Generation dieses Planeten. Warum konntet ihr trotzt besserem Wissen um die Gefahr für das Erdklima euer Verhalten nicht mäßigen? Hattet ihr denn alle eine Regulationsstörung? Aber zumeist reagieren die Jüngeren eher ein bisschen mitleidig, in der Einsicht, dass man früher noch nicht so weit entwickelt oder zivilisiert war.

Elisabeth Meßmer

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